Die Digitalisierung ermöglicht uns dank ihrer konsequenten Kategorisierung der Realität in Nullen und Einsen eine objek- tivere Sicht auf die Welt. Dabei meint die Zahl Null nicht «Nichts». Und fehlende Informationen bedeuten keine Leere.

In einem Podcast stolperte ich kürzlich darüber, dass die Maya, genauer die Olmeken, eines der ersten Völker waren, die die Null in ihrem Zahlensystem kannten. Oha, dachte ich. Nicht die Griechen oder Römer? Letztere interessierten sich, wie ich dann weiter lernte, nicht für eine mathematische Repräsentation des «Nichts» – ebenso wenig wie das antike China.Die Babylonier, denen wir mit ihrem Sexagesimalsystem unter anderem die Einteilung eines Kreises in 360 Grad oder der Stunde in 60 Minuten verdanken, kannten zwar die Problematik des «Nichts». Sie lösten diese aber durch Auslassen und nicht mithilfe eines expliziten Zeichens.Bei den Ägyptern und Griechen basierte Mathematik vor allem auf geometrischen Problemstellungen. Eine historische Quelle beschreibt die Herleitung eines Dreiecks aus einem Rechteck, mit einer vierten Seite, die keine Länge hat und mit einer entsprechenden Hieroglyphe für den Begriff «Nichts». Erst im frühen Mittelalter, so um das 5. Jahrhundert herum, entstanden in Südostasien Zahlensysteme mit einer expliziten Ziffer Null – aufgrund von astronomischen und kalendarischen Fragestellungen, ähnlich wie bei den Olmeken in Mittelamerika. Die daraus abgeleiteten arabischen Ziffern bilden bis heute die Basis unseres Ziffernsystems.Ein Zeichen für etwas, was – mathematisch ausgedrückt – die Kardinalität einer leeren Menge ist, wurde also in der Kulturgeschichte der Menschheit erst relativ spät notwendig.

Die Grenze der Ereignishorizonte.

Heute ist das Thema komplexer denn je: Das «Nichts» lässt sich, wie die moderne Physik zeigt, nicht einfach als die Abwesenheit von «Etwas» beschreiben. Selbst im Vakuum entsteht ja aus der Quantenfluktuation spontan Materie und Antimaterie, die sich sofort wieder in Energie umwandelt.Für ein Schwarzes Loch etwa, aus dem kein Licht und damit auch keine Information entweichen kann, wird seine äußere Grenze als Ereignishorizont beschrieben. Dennoch existiert jenseits dessen Masse – und damit definitiv mehr als das «Nichts» – auch wenn wir davon «nichts» sehen oder die Kräfte und Bewegungen nicht exakt messen können.Ebenso ist es in unserem Alltag: Wenn Sie Ihre Partnerin fragen, was sie denn habe und die Antwort lautet «Nichts!», dann kann sich dahinter ein schwarzes Loch an Emotionen verbergen, das Sie vorsichtig werden lassen sollte. Es geht beim «Nichts» also zunächst einmal weniger um die Beschreibung eines tatsächlichen Zustands, sondern um die Wahrnehmung. Wenn es etwas gibt, das existiert, aber – wegen der Grenze des Ereignishorizonts – keine Information weitergibt, kann auch nichts wahrgenommen werden. Ein Standpunkt frei nach dem Motto «Ich sehe nichts, also kann da nichts sein» führt deshalb in die Irre, da die bloße Abwesenheit von Informationen längst nicht bedeutet, dass nichts existiert.

Die Zahl Null ist weit mehr als das «Nichts».

Die Informatik führte eine neue Dimension der Objektivität ein: Der komplexe Verbund kleinster Schaltkreise in den Computern kennt im Grunde nur zwei Zustände: Strom fließt oder Strom fließt nicht. Die Repräsentation der beiden binären Zustände «An» und «Aus» sind 1 und 0. Die Null ist also weit mehr als «Nichts»: Sie liefert die Information, dass der Zustand nicht 1 ist – nicht mehr und nicht weniger. Ohne die Null wäre Künstliche Intelligenz genauso wenig realisierbar wie betriebswirtschaftliche Simulationen. Es empfiehlt sich daher, die Zahl Null mit Respekt zu behandeln und schon gar nicht als Synonym für einen aus unserer subjektiven Sicht minderbemittelten Mitmenschen einzusetzen – nach dem Motto: «Was für eine Null!». Damit tun wir wahrscheinlich nicht nur der Person unrecht, sondern werden auch der elementaren Funktion der Kategorie Null in unserer digitalen Lebenswelt nicht gerecht.

Autor: Frank Hendricks, geschäftsführender Gesellschafter von HENDRICKS, ROST & CIE.

Quelle: BUSINESS INTELLIGENCE MAGAZINE, www.bi-magazine.net
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